… sechs Fragen an: Anne-Luise Kitzerow (Jahrgang 2017)

📣 Was hat Dich dazu bewegt, Zukunftsforschung zu studieren, und welche Schwerpunkte hast Du in Deinem Studium verfolgt?

Es waren im Grunde sehr feministische Gründe, weshalb ich mich für das Studium entschied. Ich habe damals im Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) gearbeitet, im Grundsatzreferat Zukunft der Arbeit, wo auch das Grünbuch zum Thema Zukunft der Arbeit entstand. Ich war dort angestellt und habe mich gefragt, was mich und die Kolleg:innen unterscheidet. In den meisten Fällen war das ein abgeschlossenes Jura- oder Masterstudium. Woraufhin ich dachte, den Unterschied der vier Gehaltsstufen möchte ich auch. Und da Zukunft der Arbeit mein Thema war – ich hatte vorher bei der Bundesagentur für Arbeit gearbeitet, bevor ich zum BMAS wechselte – entschied ich mich, den Master Zukunftsforschung zu studieren. 

Ich fand es sehr schwer, die eigenen Schwerpunkte zu setzen, weil das Angebot sehr vielfältig war. Ich musste mich gefühlt die ersten zwei Semester zurechtfinden. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, dass sich in mir viel veränderte durch das Studium. Am Anfang hatte ich noch gedacht, dass ich im Politikbereich bleiben würde. Das hat sich dann aber in Richtung Gesellschaft verschoben. Wahrscheinlich hängt die Verschiebung zu Gesellschaft auch damit zusammen, dass ich vorher Kulturwissenschaften studiert hatte. Das Thema Gesellschaft fand sich schließlich auch in meiner Masterarbeit wieder. Ich befragte Bio-Bäuerinnen aus den alten Bundesländern nach ihren Zukunftsvorstellungen. Sie wurden nach der Wende bereits von meiner Mutter zu ihren Zukunftsvorstellungen befragt. Ihre Ergebnisse fasste sie in einem Sammelband zusammen. Mich interessierte vor allem: Was macht es mit den Menschen, wenn sie ihre Zukunftsvorstellungen äußern und diese veröffentlicht werden? Nicht alle wollten befragt werden, weil einige auch gescheitert waren. Es war ein spannendes und emotionales Projekt und Erlebnis. Und ich habe die Erkenntnis gewonnen: Wenn Zukunftsvorstellungen geäußert und festgehalten werden, besteht eine größere Tendenz, diese auch in die Tat und Realität umzusetzen. In manchen Fällen traten Wildcards auf, zum Beispiel der Tod des Partners, weswegen die Gegenwarten abweichten, aber die anderen hatten an ihren Vorstellungen festgehalten und daran weitergearbeitet. 

📣 An welchen Themen und mit welchen Methoden (aus Zukunftsforschung) arbeitest Du in Deiner aktuellen Position?

Nach meiner Masterarbeit bin ich aus dem öffentlichen Dienst ausgestiegen, weil ich mich eben durch das Studium auch sehr verändert hatte. Seitdem arbeite ich bei einer großen Stiftung, die Biolandwirtschaft und viele Inklusionswerkstätten betreibt. Der Bio-Joghurt Lobetal könnte einigen ein Begriff sein. Dort bin ich in der Unternehmensstrategie Referentin für Innovation und Digitales. Ich arbeite viel mit Datenanalyse im Bereich Pflege, Inklusion, Menschen mit Behinderung. Wir arbeiten manchmal mit Szenarien, aber es geht mehr um die Begleitung von Veränderungsprozessen. Durch aktuelle Gesetzgebungen bei Inklusion, was in der Pflege passiert und was politisch ansteht, entstehen viele Veränderungen für Menschen mit Behinderungen. Und hier geht es dann eher um Kommunikations- und Transferarbeit; die Dinge stark herunterzubrechen. Inhalte aus dem Studium, die mir dabei helfen, sind zum Beispiel Ikigai, was wir in einem Workshop im dritten Semester thematisiert hatten. Ansonsten das Visionboard und manchmal machen wir auch Delphis zu bestimmten Themen, die dann aber sehr spezifisch und fokussiert sind. 

📣 Was machst Du gerne, wenn Du nicht an Zukünften arbeitest?

Ich schreibe gerne und viel, häufig im Internet. Ich verbringe damit auch viel Freizeit. Meist weiß ich nicht, was am Ende herauskommt, wenn ich anfange zu schreiben, aber ich habe das Glück, dass das viele Menschen lesen. Ich mache auch viele Vorträge, aktuell zum Thema Hoffnung und der Verbindung von Hoffnung und Zukunft. Das ist ganz spannend, denn ich bin mit einem Theologen verheiratet und wir haben ganz unterschiedliche Ansichten bezüglich Hoffnung, weil wir eben aus unterschiedlichen Prägungen kommen. Ich sehe Hoffnung als Grundlage für Zukunftsvorstellungen. Unser Gehirn denkt immer hoffnungsvoll und optimistisch. Mein Mann hat aus theologischer Sicht natürlich eine etwas andere Perspektive darauf. Hier geht es dann eher um das Ende der Dinge, Paradies, alles, was danach kommt. Ich verstehe Hoffnung anders. Sie ist im Jetzt, alles passiert im Jetzt. Ich beziehe mich auch stark auf das Hoffnungsmodell von Andreas Kraft. 

📣 Wann fängt für Dich die Zukunft an?

Mein Begriff von Zukunft hat sich in den vergangenen zwei Jahren sehr verändert. Grund dafür war eine Krebserkrankung, durch die ich eine ganz andere Vorstellung von Zukunft habe als vorher. Auch da hat mir das Studium sehr geholfen, so komisch das klingt. Aber hätte ich vorher nicht gewusst, dass es immer die Option auf Zukünfte gibt und wie ich mit auftretenden Problemen umgehen kann, hätte ich die Sache vielleicht weniger gut, weniger reflektiert oder traumatisierender durchlebt – These, denn ich kann das nicht, im Sinne einer selbsterfüllenden oder selbstvermeidenden Prophezeiung, belegen. Aber seither ist Zukunft für mich immer ab jetzt. Vorher hätte ich gesagt, Zukunft ist eher etwas langfristiges, geplantes, etwas, was viel mit Kontrolle zu tun hat. Aber das ging nicht mehr – das hat mein Denken massiv beeinflusst. Es macht mich aber auch freier. Ich kann sagen: Ich habe Pläne, ich habe Zukunft, aber es kann sich ändern. Damit kann ich heute anders umgehen. 

📣 Welche Zukunftsbilder hast Du für die deutsche Zukunftsforschung vor Augen?

Die Frage finde ich sehr schwierig zu beantworten. Ich bin großer Fan von Cornelia Daheim. Ich finde, sie kann die Dinge wunderbar herunterbrechen, die Menschen mitnehmen und ihnen gut erklären, dass Zukunftsforschung kein abgehobenes Ding ist, sondern etwas Alltägliches und dass es helfen kann, wichtige Veränderungen in das Jetzt zu tragen. Grundsätzlich finde ich immer noch, dass Frauen unterrepräsentiert sind und ich möchte eine Lanze für alle Zukunftsforscher*innen brechen. Deshalb habe ich mich auch als eine von sechs Frauen an der Gründung des Netzwerk Zukunftsforscher*in beteiligt.

Ich denke, die Zukunftsforschung muss sich mehr in Richtung Prozessbegleitung entwickeln. Zum einen, weil sich der Markt dorthin entwickelt, aber vor allem, weil der Bedarf da ist. Ich denke, Zukunftsforschung kann mehr Hands-On gebrauchen. Das heißt aber nicht, dass die Basics nicht wichtig sind. Die inhaltliche Tiefe für das Verständnis von Zeit, von gesellschaftlichem Aufbau und diesen Dingen halte ich für sehr wichtig. Aber um Zukunftsforschung begreiflicher zu machen und mehr in den Fokus zu rücken, werden wir nicht um die Prozessbegleitung herumkommen. Ich finde, ein gutes Beispiel ist, wie Florence Gaub das in ihrem Buch macht. 

📣 An welchen Projekten arbeitest Du gerade?

Ich arbeite aktuell viel im Kontext von Demokratiestärkung. Also wie können wir eine inklusivere Gesellschaft entstehen lassen und wie schaffe ich es, dass sich Menschen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen im demokratischen Verständnis selbstwirksam beteiligen, erhalten und fördern? Außerdem beschäftige ich mich persönlich mit dem Thema Zukünfte von Familien. Das heißt, ich beobachte, wie sich Familienstrukturen verändern. Was bedeutet zum Beispiel das Aufbrechen von Familienbildern für die Gesellschaft? Ich glaube, wir haben das derzeit noch überhaupt nicht im Blick, aber das wird uns in den nächsten Jahren begleiten. Wir befinden uns im demographischen Wandel, im Zerbrechen von Familien- und Rollenbildern – und ich bin dazu positiv eingestellt. Aber ich glaube, wir müssen Menschen in Verwaltung, an Schulen, beim Thema Lernen und Demokratie mitnehmen, was aktuell noch nicht passiert. 

Eindrücke des Holitopia Festival for Arts & Futures 2024
von Benjamin Lehn & Dominik Kramer 

In der August-Ausgabe haben wir vier Tickets an Studierende und Alumni für das Holitopia Festival for Arts & Futures verlost. In dieser Ausgabe geben Dominik Kramer und Benjamin Lehn Einblick in Ihre Erfahrungen des Festivals. 

Dominik Kramer: „Wer designt die Zukunft?“ – das Holitopia gibt verschiedene Antworten

Das Holitopia Festival dieses Jahr brachte eine spannende Mischung aus Kunst, Design und Future Studies zusammen. Das vielfältige Programm regte zum Nachdenken an. Die Frage, die bei mir persönlich am meisten hängen geblieben ist, stellte Stefanie Ollenburg in einem Panel Talk mit Maximilian Mauracher und Madeleine Schwinge: „Wer designt Zukunft wirklich? Sind es wir Designer/ Künstler/ Futurologen? Oder sind es nicht eher unsere Geldgeber, die entscheiden, wie lange wir uns womit beschäftigen und was mit den Ergebnissen geschieht?“

Diese Frage wurde so in ihrer Deutlichkeit kein zweites Mal gestellt auf dem Holitopia, doch wurde sie immer wieder von verschiedenen Seiten angeschnitten. So erzählte Maximilian Maueracher im selben Panel Talk von seiner Arbeit nachhaltiges Denken in den Brennpunkten Neuköllns zu verbreiten. Er meinte, mit einem Top-Down-Ansatz, in dem sie versuchten, den Bewohner zu erklären, was Nachhaltigkeit sei, seien sie gescheitert. Erst als sie anfingen zuzuhören und die Probleme der Nachhaltigkeit an die täglichen Probleme der Bewohner anzuschließen, fingen sie an, erste Erfolge zu erzielen.

Auch Dr. Derek Woodgate gab eine indirekte Antwort auf diese Frage. So meinte er, bei der Frage, wie wir glauben, dass die Zukunft aussehen könnte, dürfen persönliche Ideale nie an erster Stelle stehen. Bei einem anschließenden persönlichen Gespräch kam daraufhin die Frage auf, ob er als Berater hochrangiger Entscheidungsträger aus Politik und Wirtschaft durch seine Zukunftsvorstellungen nicht die werdende Zukunft beeinflussen würde. Darauf konkretisierte er: persönliche Ideale dürften bei der Beratung nie an erster Stelle stehen, doch müssten sie immer an zweiter Stelle sein.

Teilweise beantwortete die Frage auch Dr. Felix Kosok in seiner Key Note „We’re not quiete there yet – approaching the future through queer failure“. In dieser ging es ihm darum, die dominante Form der Technologieentwicklung aufzubrechen. Diese würde häufig so aussehen, dass Technologien im militärisch-industriellen Komplex entwickelt werden, um anschließend von multinationalen Konzernen für die breite Öffentlichkeit vermarktet zu werden – mit dem Ziel möglichst viel Profit zu generieren. Die Perspektive von Menschen in der Peripherie (etwa queeren Personen) könne dabei helfen, die dominanten Denkmuster aufzubrechen und so etwas Neues zu kreieren. Die anschließenden Beispiele kamen allerdings nicht aus den Bereichen Design oder Technologie, sondern aus der Kunst. Sie regten zwar zum Nachdenken an, strebten aber keine breite Nutzung in der Öffentlichkeit an und wollten somit auch nicht die dominante Art der Technologieentwicklung aufbrechen. In der anschließenden Fragerunde brachte Dr. Kosok deswegen noch das Beispiel des „Design Justice Network“ auf, in welchem sich Designer zusammengeschlossen hätten, um ihre Prinzipien und Wertvorstellungen besser durchsetzen zu können.

Vielleicht steckt hierin der Kern des Holitopia Festivals. Nur im Austausch können wir unsere Ideen weiterentwickeln und Werte verfestigen. Nur durch ihre Verbreitung können unsere Ideen und Werte in der Welt etwas bewirken. Und nur indem wir uns zusammenschließen, können wir gemeinsam unsere Werte behaupten.

Benjamin Lehn: „Ein geteilter Raum für hoffnungsvollen Austausch und das skizzieren pragmatischer Utopien.”

Holitopia wurde voll und ganz dem Anspruch seiner Initiatorin gerecht: Ein geteilter Raum für hoffnungsvollen Austausch und das skizzieren pragmatischer Utopien. Transdisziplinarität zog sich ebenfalls durch den ganzen Tag: Angefangen bei einer Keynote von Dr. Dana Klisanin, die Prinzipien von Rewilding u.A. unter Verwendung von Publikationen aus der Zukunftsforschung auf die menschliche Psyche anwendet. Konkrete Anhaltspunkte, wie sich Praktiken in Architektur bzw. Design ändern könnten und müssten, gaben hingegen tiefe Einblicke in die jeweilige Arbeit von Chrissie Muhr und Rasa Weber. Vielfältige Provokationen von Dr. Derek Woodgate über künftige Verschiebungen in Werte- und Menschenbildern regten zum Nachdenken und Reflektieren an. In einem Workshop mit materialisiertem Brainstorming und einem dreidimensionalen, kollaborativen Eisberg-Modell wurden schließlich Systemic Design und Futures durch Verkörperung in ein Serious Game von Prof. Pelin Celik und Jana Picciani zugänglich gemacht. Die unzähligen Inspirationen und spannenden Eindrücke sprengen auf jeden Fall den Rahmen eines Artikels und machen bereits jetzt schon Lust auf die nächste Edition!

Tagesspiegel Future Sustainability Week 2024 

Im Vorfeld der diesjährigen UN-Klimakonferenz, der COP29 in Baku, wurde über Lösungsansätze, Innovationen und Rahmenbedingungen für die nachhaltige Transformation – national und international – gesprochen.  

An drei Tagen (Dienstag 5.11. bis Donnerstag 7.11.) bekommen bei der Tagesspiegel Future Sustainability Week 2024 Impulse und praxisnahe Einblicke aus Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und Politik eine Bühne  und Entscheidungsträger:innen die Möglichkeit, sich zu vernetzen.

Die Future Sustainability Week widmet sich in kuratierten Themenblöcken großen Transformationsbereichen – ob Energie und Dekarbonisierung, Kreislaufwirtschaft in der Agrarwende, Infrastruktur und Mobilität, digitale und technologische Innovationen.Im Vordergrund steht die Vernetzung von Branchen und Themen.

…Regenerativen Zukünften und künstlicher Intelligenz?

Neues Buch! „Regenerative Zukünfte und künstliche Intelligenz“

Der erste Teil des dreiteiligen Sammelbands „Regenerative Zukünfte und künstliche Intelligenz“, herausgegeben von Kai Gondlach, Birgit Brinkmann, Mark Brinkmann und Julia Plath, ist kürzlich im Springer VS Verlag erschienen. Mit dem Fokus „PLANET“ beleuchtet er die ökologische Dimension der Nachhaltigkeit und vereint Beiträge von Expert:innen aus Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft und bietet eine breite Palette an Perspektiven. Besonders hervorzuheben sind die „Konkreten Utopien“ am Ende des Bandes, die positive Zukunftsszenarien für 2050 entwerfen. Diese ungewöhnliche Ergänzung für ein Fachbuch soll zum Nachdenken und Handeln anregen, ganz im Sinne der Zukunftsforschung. Weitere Informationen hier.

Die Teile 2 und 3 erscheinen in den kommenden Monaten.